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Inwieweit und warum steigen psychologische Erkrankungen in den letzten Jahren an?


Zunächst vielleicht noch einige Begriffsklärungen vorab: Wir sprechen von psychischen Erkrankungen, also nicht von psychologischen. „Psyche“ ist eine andere Bezeichnung für die Seele. Man könnte also auch den Begriff „seelische Erkrankungen“ verwenden. Diese Erkrankungen werden von verschiedenen Berufsgruppen behandelt, hauptsächlich von Psychotherapeut*innen, Hausärzt*innen und Psychiater*innen. Die „Psychologie“, also die Lehre vom Erleben und Verhalten, bietet für das Verstehen und Behandeln von psychischen Erkrankungen eine Grundlage, aber auch die Medizin, die Soziologie, die Systemtheorie usw. sind hierbei hilfreich. Deswegen sprechen wir lieber von psychischen Erkrankungen.


Nun aber zu der Frage, die ja eigentlich zwei Fragen enthält. Die erste ist, ob psychische Erkrankungen häufiger geworden sind. Die zweite Frage erkundigt sich nach dem Grund dafür, falls dies denn der Fall ist.


Wenden wir uns der ersten Frage zu: Sind psychische Erkrankungen häufiger geworden in den letzten Jahren? Das ist gar nicht so leicht zu beantworten, denn psychische Erkrankungen sind nicht meldepflichtig. Wir benötigen also andere Informationsquellen, z. B. Studien oder Abrechnungsdaten von Krankenkassen. Da es in Deutschland sehr viele Krankenkassen gibt, müssen deren Daten zusammengeführt werden. Das macht zum Beispiel die Kassenärztliche Bundesvereinigung (https://www.kbv.de/html/). Deren Analysen zeigen, dass zwischen 2014 und 2018 die Kosten für psychotherapeutische und der psychiatrische Leistungen NICHT zugenommen haben (https://gesundheitsdaten.kbv.de). Das würde dafür sprechen, dass auch die psychischen Erkrankungen nicht zugenommen haben. Allerdings sehen wir hier auch schon den Haken, den solche Daten haben: Dass nicht mehr behandelt wird, bedeutet nicht zwangsläufig, dass es keinen Bedarf an Behandlung gibt. Es kann ja auch sein, dass die Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen nicht mehr Patient*innen aufnehmen können, weil sie am Rande ihrer Kapazitäten sind. Dies ist tatsächlich häufig der Fall.

Zwischen 2014 und 2018 sind die Kosten für psychotherapeutische und psychiatrische Leistungen nicht gestiegen - das heißt jedoch nicht, dass der Bedarf an Behandlungen nicht auch gestiegen ist.

Wir brauchen also noch weitere Daten. In Deutschland gibt es mit der DEGS-Studie (Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland, www.degs-studie.de) des Robert-Koch-Instituts eine große Studie zur Häufigkeit psychischer Erkrankungen. Die Forscher*innen führten umfangreiche klinische Interviews mit mehr als 5000 Personen durch. Demnach litten 28 % der Bevölkerung in den vergangenen 12 Monaten unter einer psychischen Erkrankung. Ganz ähnliche Häufigkeiten fanden Forscher 20 Jahre vorher in den USA, was nicht dafür spricht, dass die Häufigkeit zugenommen hat. Allerdings sind das Daten aus verschiedenen Ländern, die man nicht direkt vergleichen kann. Wir brauchen also weltweite Daten.


Die Weltgesundheitsorganisation WHO sammelt leider nur von einem Teil der psychischen Erkrankungen die Angaben zur Häufigkeit und Dauer, weshalb dort die Krankheitslast psychischer Erkrankungen unterschätzt wird. Trotzdem kann man diese Daten natürlich nutzen, um Trends über die Zeit zu untersuchen. Demnach änderte sich die Häufigkeit psychischer Erkrankungen weltweit nicht: vor 1998 waren 38 % der Bevölkerung betroffen, zwischen 2006 und 2013 insgesamt 36 %.


Dies alles legt nahe, dass psychische Erkrankungen insgesamt in den letzten Jahren nicht zugenommen haben - zumindest werden sie nicht häufiger diagnostiziert. Damit ist die Antwort auf die zweite Frage, die nach dem Grund einer möglichen Zunahme, hinfällig geworden.





Literatur


Bridler R, Orosz A, Cattapan K et al. (2013) In Need of Psychiatric Help - Leave a Message after the Beep. Psychopathology 46:201-205


Gaebel W, Zielasek J, Kowitz S (2016) Inanspruchnahme ambulanter psychotherapeutischer Versorgung. Eine Analyse von Sekundärdaten. Nervenarzt 87:1201-1210


Jacobi F, Hofler M, Siegert J et al. (2014) Twelve-month prevalence, comorbidity and correlates of mental disorders in Germany: the Mental Health Module of the German Health Interview and Examination Survey for Adults (DEGS1-MH). International Journal of Methods in Psychiatric Research 23:304-319


Kessler RC, Mcgonagle KA, Zhao SY et al. (1994) Lifetime and 12-Month Prevalence of Dsm-Iii-R Psychiatric-Disorders in the United-States - Results from the National-Comorbidity-Survey. Archives of General Psychiatry 51:8-19


Vigo D, Thornicroft G, Atun R (2016) Estimating the true global burden of mental illness. Lancet Psychiatry 3:171-178


Von Wietersheim J, Seitz B, Rottler E et al. (2021) Aufwand, Erfolg und Scheitern bei der Suche nach einem ambulanten Psychotherapieplatz - Ergebnisse einer prospektiven Studie. Gesundheitswesen 83:40-46


Vos T, Allen C, Arora M et al. (2016) Global, regional, and national incidence, prevalence, and years lived with disability for 310 diseases and injuries, 1990-2015: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2015. Lancet 388:1545-1602


Vos T, Barber RM, Bell B et al. (2015) Global, regional, and national incidence, prevalence, and years lived with disability for 301 acute and chronic diseases and injuries in 188 countries, 1990-2013: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2013. Lancet 386:743-800


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