Ein großes Problem in der (epidemiologischen) Forschung ist die sogenannte "Non-Response", auf Deutsch: „Nicht-Teilnahme“. Non-Response beschreibt die Teilnahme- oder Antwortverweigerung von potenziellen Studienteilnehmenden (sog. Non-Responder).
Non-Response ist dann problematisch, wenn der Anteil der Non-Responder besonders hoch ist, und/oder die Non-Responder sich systematisch von den letztlich in die Studie eingeschlossenen Personen unterscheiden. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn wir 50 Männern und 50 Frauen einen Fragebogen zu ihrer sportlichen Aktivität zusenden und lediglich die Frauen den Fragebogen ausfüllen und an uns zurücksenden. „Systematisch“ bedeutet also, dass eine bestimmte Personengruppe der ursprünglich Befragten häufiger zu den Non-Respondern gehört. Wenn sich diese Gruppe zusätzlich noch hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes (z. B. der sportlichen Aktivität) von den Teilnehmenden der Studie unterscheidet, kann dies dazu führen, dass wir falsche Annahmen über den untersuchten Zusammenhang treffen.
Ein Beispiel: Wir möchten den Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und psychischem Wohlbefinden untersuchen. Für unsere Untersuchung ziehen wir eine Zufallsstichprobe aus allen mindestens 18-jährigen Personen mit Wohnsitz in Bayern. Unsere Stichprobe von 500 Personen bekommt einen Fragebogen zugesendet. Neben Fragen zur körperlichen Aktivität und zum psychischen Wohlbefinden erheben wir auch einige demografische Informationen wie z. B. das Alter und Geschlecht. Von allen 500 Personen, die unseren Fragebogen erhalten haben, antworten uns 300. Das sind 60 % (man spricht auch von einer Ausschöpfungsquote von 60 %). Das Problem: über 80 % derer, die uns geantwortet haben, sind Frauen. Und das, obwohl wir zu gleichen Teilen Männer und Frauen befragt haben. Unsere Responder und Non-Responder unterscheiden sich also systematisch hinsichtlich ihres Geschlechts. Dies verzerrt unsere Ergebnisse, wenn sich Männer und Frauen auch hinsichtlich ihrer körperlichen Aktivität unterscheiden. Dann könnten wir keine zuverlässigen Aussagen über den Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und psychischem Wohlbefinden "aller, mindestens 18-jährigen Personen mit Wohnsitz in Bayern" treffen.
Auch wenn eine Ausschöpfungsquote von 100 % eigentlich nie zu erreichen ist, besteht das Ziel grundsätzlich darin, den Anteil der Non-Responder so gering wie möglich zu halten. Dies ist nämlich wichtig, damit die Repräsentativität unserer Stichprobe gegeben ist. D. h. wir möchten erreichen, dass unsere Stichprobe der Grundpopulation, über die wir Aussagen treffen möchten, so ähnlich wie möglich ist. In unserem obigen Beispiel besteht die Grundpopulation aus allen mindestens 18-jährigen Personen mit Wohnsitz in Bayern.
Es gibt nun verschiedene Möglichkeiten zu versuchen, den Anteil der "Antwortverweigerer" zu verringern. Neben beispielsweise einer personalisierten Einladung zur Studienteilnahme, dem Hinweis auf den Nutzen der Untersuchung oder dem Versprechen, am Ende der Studie einen Bericht über die Ergebnisse zugesendet zu bekommen, gibt es auch materielle Anreize zu Teilnahme. Hierzu zählen Gutscheine oder Geldgeschenke. In einer Untersuchung hierzu konnte gezeigt werden, dass Personen, die einen Fragebogen erhielten, dem Geld beigelegt war, den Fragebogen signifikant häufiger beantworteten als Personen, die denselben Fragebogen ohne zusätzliches Geldgeschenk erhielten.
Aber ist es ethisch korrekt, den Teilnehmenden für die Studienteilnahme Geld anzubieten?
Was in der Forschung als „ethisch korrekt“ und damit erlaubt gilt, wird durch einen ethischen Kodex geregelt. Hierbei hat jeder Forschungsbereich einen eigenen Kodex, dessen Richtlinien Forschende folgen müssen, damit ihre Forschung genehmigt und finanziert wird. In der medizinischen Forschung handelt es sich hierbei um die „Deklaration von Helsinki“ des Weltärztebundes. Dieser Kodex beschreibt die ethischen Grundsätze der medizinischen Forschung am Menschen. Ein wichtiger Bestandteil eines jeden Kodex von Forschungsbereichen, die Forschung am Menschen betreiben, ist die Freiwilligkeit zur Studienteilnahme. Hierfür müssen Forschende nach Aufklärung über die Ziele ihrer Studie eine informierte Einwilligungserklärung von den Teilnehmenden einholen. Die Teilnehmenden müssen sich freiwillig bereit erklären, an der Studie teilzunehmen. Ein Forschender darf bei der Rekrutierung von Versuchspersonen keinen Druck auf potenzielle Teilnehmende und keine „unzulässige Einflussnahme“ ausüben.
Im Hinblick auf finanzielle Anreize zur Studienteilnahme stellt sich also die Frage: beschränken finanzielle Anreize die Freiwilligkeit zur Studienteilnahme? Und ab wann gilt ein finanzieller Anreiz als „unzulässige Einflussnahme“? Diese Frage wird kontrovers diskutiert – demnach gibt es hierauf keine allgemeingültige Antwort. Im Einzelfall entscheidet eine sogenannte Ethikkommission über die (Un)zulässigkeit eines finanziellen Anreizes zur Studienteilnahme.
Ob ein finanzieller Anreiz als eine "unzulässige Einflussnahme" gilt, also ob Gutscheine oder Geldgeschenke eine freiwillige Teilnahme beeinflussen, kann nicht immer pauschal festgelegt werden. Im Einzelfall entscheidet eine Ethikkommission darüber, ob eine finanzielle Vergütung zulässig ist oder nicht.
Die Aufgabe einer Ethikkommission besteht allgemein darin, eine Studie vor ihrer Umsetzung hinsichtlich ethischer Kriterien zu prüfen. Um festzustellen, ob eine finanzielle Einflussnahme „unethisch“ und damit nicht zulässig ist, kann sich die Ethikkommission an den Richtlinien des beratenden Ausschusses des Ministeriums für den Schutz der Forschung am Menschen (SACHRP) orientieren.
Der SACHRP weist grundsätzlich darauf hin, dass die meisten finanziellen Anreize keine Bedenken hinsichtlich einer unzulässigen Beeinflussung aufwerfen. Sie sind oft sogar ethisch wichtig. Denn finanzielle Anreize helfen dabei, genügend – und diverse – Teilnehmende zu rekrutieren und können diese motivieren, die Studie abzuschließen; was letztlich wichtig für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn ist. Auch können finanzielle Anreize den Teilnehmenden Anerkennung hinsichtlich des Beitrags, den sie zur Forschung leisten, entgegenbringen.
Nach dem SACHRP sind daher verschiedene Formen finanzieller Anreize gut vertretbar und teilweise sogar wichtig. Beispielsweise die Erstattung von Reise- und Unterkunftskosten, die anfallen, wenn sich eine Person für die Teilnahme an der Studie entscheidet. Auch stellt eine finanzielle Entschädigung der Teilnehmer für ihre Zeit und ihren Aufwand keine grundsätzlich unzulässige Beeinflussung dar. Ebenfalls kleine Zahlungen oder Geschenke, die als Dank für die Teilnahme gedacht sind, sind – aufgrund ihrer geringen Höhe – nicht per se bedenklich.
Problematisch werden finanzielle Anreize dann, wenn sie die unvoreingenommene Bewertung der Risiken und des Nutzens einer Studienteilnahme auf bedenkliche Art beeinflussen. Bedenklich ist eine solche Beeinflussung dann, wenn sich eine Person den Risiken einer Untersuchung aussetzt, die sie ansonsten nicht in Betracht ziehen würde. Ethikkommissionen werden daher dazu angehalten, genau zu analysieren, inwiefern dies auf einen finanziellen Anreiz zutrifft. Hierfür ist es wichtig, dass Forschende detailliert darlegen, warum sie ihren Teilnehmenden wie viel Geld zahlen.
Geld für die Teilnahme an einer Studie zu erhalten ist also nicht grundsätzlich ethisch verwerflich. Hätten wir unserem Fragebogen zur sportlichen Aktivität und psychischem Wohlbefinden einen fünf Euro Schein beigelegt, wäre dies ethisch sicherlich gut vertretbar. Auch ist eine finanzielle Entschädigung für Reisekosten grundsätzlich nicht bedenklich. Patient*innen mit einer bestimmten Erkrankung 500 Euro dafür zu bieten, ein neues Medikament zu testen, wird hingegen von einer Ethikkommission sicherlich nicht genehmigt – insbesondere dann, wenn unter den Proband*innen Personen sind, die auf das Geld angewiesen sind.
Die Frage danach, ob es ethisch korrekt ist, für eine Studienteilnahme Geld zu erhalten, kann also leider nicht mit einem klaren „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden.
Dies ist von Studie zu Studie gesondert zu betrachten und von einer Ethikkommission zu bewerten. Grundsätzlich kommen Geldgeschenke in der Forschung jedoch nur selten zum Einsatz, da sich die Studienleitenden dem „Dilemma“ der Freiwilligkeit durchaus bewusst sind.
Literatur
Mehlkop, G., & Becker, R. (2007). Zur Wirkung monetärer Anreize auf die Rücklaufquote in postalischen Befragungen zu kriminellen Handlungen: theoretische Überlegungen und empirische Befunde eines Methodenexperiments. Methoden, Daten, Analysen (mda), 1(1), 5-24.
Bernstein, S. L. & Feldman, J. (2015). Incentives to participate in clinical trials: practical and ethical considerations. The American Journal of Emergency Medicine, 33 (9), 1197-1200. http://dx.doi.org/10.1016/j.ajem.2015.05.020
World Mediacal Association (WMA). (2013). WMA Declaration of Helsinki – Ethical Principles for Medical Research Involving Human Subjects. Verfügbar unter: https://www.wma.net/policies-post/wma-declaration-of-helsinki-ethical-principles-for-medical-research-involving-human-subjects/
Secretary’s Advisory Committee on Human Research Protections (SACHRP). (2019). Attachment A - Addressing Ethical Concerns Offers of Payment to Research Participants. Verfügbar unter: https://www.hhs.gov/ohrp/sachrp-committee/recommendations/attachment-a-september-30-2019/index.html
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