Das ist eigentlich weniger eine Frage an die Epidemiologie als vielmehr an die Psychologie oder die Soziologie. „Verschwörungstheorien“ sind meistens keine wirklichen Theorien, sondern eher Mythen, aber der Begriff „Verschwörungstheorie“ hat sich eingebürgert. In der Regel wird damit gemeint, dass Menschen vermuten, ein Ereignis oder eine Situation—wie z. B. die COVID-19 Pandemie—sei entweder von bösen Mächten willentlich in die Welt gebracht worden oder es gäbe sie in Wahrheit gar nicht, es würden darüber nur unwahre Informationen verbreitet.
Niemand würde wohl von sich selbst sagen, dass er Anhänger einer Verschwörungstheorie ist. Für uns selbst nehmen wir normalerweise in Anspruch, die „Wahrheit“ zu vertreten. Nur Anderen schreiben wir zu, an Unwahrheiten zu glauben oder gar bewusst Unwahres zu sagen und zu vertreten. Insofern beinhaltet schon die Verwendung des Begriffs „Verschwörungstheorie“, dass der oder die Fragende dem Phänomen skeptisch gegenübersteht.
Daraus ergibt sich auch die Brisanz des Themas – verschiedene Menschen haben eine verschiedene Wahrnehmung, oder schätzen Dinge unterschiedlich ein, und denken über den jeweils Anderen, er vertrete die Unwahrheit. Dadurch fühlt man sich normalerweise angegriffen und versucht, seine Position zu verteidigen. Und so verhärten sich die Fronten.
Ich versuche deshalb hier zu reflektieren, dass auch meine Sicht nicht davor gefeit ist, falsch oder unwahr zu sein. Es ist einfach meine Sicht auf die Dinge.
Wie ist nun meine Sicht als Epidemiologin und Psychologin? Ich vermute, dass Menschen in Zeiten von Krisen und Unsicherheit irgendwie versuchen, ihre Angst loszuwerden. Das können sie auf unterschiedliche Weisen tun. Eine Möglichkeit ist, alles Negative von sich selbst quasi „wegzudenken“ und einem anderen Menschen—oder einer Gruppe von Personen — zuzuschreiben. Man nennt diesen Vorgang „Projektion“. So kann man z. B. die Angst vor dem möglicherweise tödlichen Virus auf Politiker projizieren. Diese kann man sehen und anfassen, sie sind also damit viel leichter zu begreifen als so ein Virus, wo man nicht mal richtig weiß, wie das funktioniert. Es kann sein, dass sich dabei die Angst vielleicht sogar in Wut verwandelt, und damit kann man möglicherweise besser umgehen als mit Angst, weil man sich da nicht so hilflos fühlen muss. Die Projektion hat also die Angst wunderbar in den Griff bekommen. Dafür zahlt man aber einen hohen Preis: Einen Verlust an Realität (denn in Wahrheit ist das Virus gefährlich, nicht der Politiker) und auch an Flexibilität. Man muss sozusagen hartnäckig bei seiner Projektion bleiben und kann sich nicht davon lösen, sonst fällt alles wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Wenn diese Überlegungen von mir zutreffen, dann wäre die Zunahme von „Verschwörungstheorien“ damit zu erklären, dass die COVID-19-Pandemie bei vielen Menschen sehr starke Ängste ausgelöst hat, die sie nicht anders bewältigen können.
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